Inspirationsblitz

I

Manchmal kommt es vor, dass uns Geschichten treffen wie der Schlag. Du hörst eine Geschichte, vielleicht erlebst du sie sogar selbst und wirst getroffen. Du merkst, dass das Erlebte oder Gehörte mit dir zu tun hat. Es kann dich verändern. Perspektivwechsel erzeugen, dein Umfeld erstrahlen lassen. Blitzartig. Hier kommt ein Inspirationsblitz, der kürzlich durch mich gefahren ist. Achtung, High Voltage!

Die Story

Ich bin unterwegs von Ulm HBF nach Heilbronn. Regionalexpress. Zehn Minuten vor Stuttgart HBF kommt die obligatorische Ansage. „…alle Anschlusszüge werden erreicht“. „Optimalski“ sage ich mir. Ich sitze in einem Vierer. Schon seit Ulm habe ich in dem Vierer neben mir einen blinden jungen Mann bemerkt. Er muss etwa in meinem Alter gewesen sein. Angesichts der bevorstehenden Ankunft rufe ich zu meinem Nachbarn rüber: „Entschuldigung, kannst du gleich beim Aussteigen Hilfe gebrauchen, um über die Stufen zu kommen?“ Wir saßen in einem Doppeldeckerzug beim Fahrradabteil. Um auf den Bahnsteig zu gelangen, galt es doch ein, zwei Unebenheiten zu überwinden. Mein Nachbar antwortete freundlich und nahm meine Hilfe an. Ich griff also meine Tasche und setzte mich in seinen Vierer rüber. Ein Gespräch entstand. Hätte ich zuvor über den Wert der Worte gewusst, die wir innerhalb der nächsten fünf Minuten austauschten, hätte ich mich viel früher rüber gesetzt. Zuerst ging es um Ein- und Ausstiege im Zug. Trotz seiner Sehbehinderung wollte er sich nicht unterkriegen lassen. Cooler Typ, dachte ich. Dann fragte er mich, wo ich hinfahren will und was ich vorhabe. So sagte ich also, dass ich in Heilbronn zwei gute Freunde treffen würde. Sie hatten mich in ihre neue Wohnung eingeladen. Ich fragte zurück: „Was ist dein Ziel?“  „Ich lasse mich hier in Stuttgart trainieren, um eine Ausbildung machen zu können“ sagte er. „Was willst du werden?“, fragte ich. Dann begann er davon zu reden, dass ihm die Arbeit im Büro Spaß machen würde. Meine erste Assoziation – die ich natürlich nicht laut aussprach – war, wie er das denn anstellen wollte? Schließlich war er blind. So erzählte er also, was er an der Büroarbeit spannend fand. Er erzählte so begeistert und pausenlos, dass ich nicht zwischendurch fragen konnte, wie er das mit seinem fehlenden Sehvermögen hinbekommen würde. Zwischenzeitlich war der Zug in Stuttgart HBF angekommen, die Leute waren alle ausgestiegen, jetzt waren wir dran. Er streckte sich nach meiner Hand aus. Ich hielt seinen Arm fest und sage ihm alle Hindernisse voraus. Durch meine Angaben und das geschickte Benutzen seines Blindenstocks, der scheints seinen Sehsinn ersetzte, waren wir im Nu draußen. Diese eine Frage brannte mir immer noch auf den Lippen: Wie geht Büroarbeit ohne Sehsinn? Am Bahnsteig angekommen, sah ich aus der Entfernung die Bahnhofsmission. Er wurde bereits erwartet. „Ich werde eine Ausbildung machen, um im Büro arbeiten zu können. Hier in Stuttgart wird man mir dabei helfen, mein Ziel zu erreichen.“ Das waren seine letzten Worte mir gegenüber, bevor die Bahnhofsmission ihn begrüßte und begleitete. Entschlossen wie nie. Noch einmal wendete er sich zu mir zurück, um sich bei mir zu bedanken. Wie er sich bei mir bedankte, werde ich nicht vergessen. Meine Frage war inzwischen zweitrangig gewesen. Ich fragte mich einfach nur, was das für ein krasser Typ sei. „Dankeschön für das Raushelfen und viel Spaß bei deinen Freunden“, rief er. Er bedankte sich so, als hätte er mich gar nicht gebraucht, um aus dem Zug raus zu kommen. Trotz, dass er nicht sehen konnte, schien es, als seinen ihm alle Fähigkeiten gegeben, seinen eigenen Weg zu gehen. Ich war baff. Ich blieb stehen und schaute ihm und der Dame von der Bahnhofsmission ein paar Sekunden hinterher. Ich stand still. Meine Verwunderung lähmte mich. Dieser Typ ließ sich weder von einer Behinderung einschränken, noch von Leuten wie mir, die ihm seine Ziele nicht zutrauen würden. Ich wurde wieder klar. Wo bin ich? Ah ja. Gleis 16 oder so, Stuttgart Hauptbahnhof. Plötzlich fiel mir wieder auf, dass ich wechseln musste. Auf‘s andere Gleis. Ich wollte ja nach Heilbronn. Ich schob meine Verwunderung beiseite, um wieder klar denken zu können, eilte zu meinem Folgezug, setzte mich und versuchte wieder klare Gedanken zu fassen. Eine andere Frage blieb dann übrig.

Wer von uns beiden war hier eigentlich der Blinde?

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Nate

Ich bin Nate, schreibe über Gott und die Welt. Und alles was es dazwischen noch so gibt.

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